Stadtspaziergänge: soziologische und historische

L’invention de Paris. Il n’y a pas de pas perdus

Vor einigen Jahren ist das Buch von Eric Hazan, Die Erfindung von Paris, in vielen Zeitungen sehr gerühmt worden. Wir haben dann entdeckt, dass es bereits seit einiger Zeit in unserer Bibliothek steht, allerdings ungelesen. Bei unseren zwei längeren Pariss-Aufenthalten haben wir nun viel darin gelesen. Der topographisch orientierte Aufbau lädt geradezu ein, der Erzählung folgend durch die Stadt zu streifen – das unhandliche Format der deutschen Ausgabe erschwert ein solches Vorhaben leider; französisch gibt es immerhin ein Taschenbuch und es exisiteren – am handlichsten – auch digitale Ausgaben. Wir haben inzwischen einiges darin studiert, selektiv  unseren Standorten oder Entdeckungsabsichen folgend.

Paris. Quinze promenades sociologiques

Letztes Jahr, gegen Ende unseres Aufenthaltes, habe ich per Zufall deises Buch von Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot gesehen und spontan gekauft. Erst bei diesem Paris-Aufenthalt habe ich auch darin gelesen.

Wir sind am 30. Oktober einem Teil des vorgeschlagenen Spazierganges durch das Quartier Le Sentier gefolgt. Allerdings war der Unterschied zwischen der Beschreibung eines lebhaften Quartiers und der heutigen Realität ziemlich gross: viele Läden waren geschlossen, ob nur an diesem Tag oder doch eher für immer, war nicht in jedem Fall klar festzustellen. Trotzdem war der Spaziergang spannend.

Ein zweiter Spaziergang führte uns in den Faubourg Saint Antoine, ursprünglich das Quartier der Möbelschreiner und der Holzverarbeitung, welche heute durch neue, moderne Firmen im Bereich der IT, der Beratung im weitesten Sinne, von Architekt:innen und Innenarchitekt:innen verdrängt worden sind. Die Passagen und Innenhöfe (Sackgass-Passagen) bestehen aber noch. Wir haben auch die Fabrik der Kriegers gesehen – 74 Rue Faubourg Saint Antoine – welche Filialen in Nizza, Lille, Kairo und Alexandria hatten und von 1855 bis 1922 an den Weltausstellungen von Paris, Chicago, Brüssel, St. Louis, Mailand, London, Gant und Monaco preisgekrönt wurden.

Historische Stadtpläne

Vor Jahren habe ich eine App entdeckt, die – wie Openstreetmap – die Bauzeiten aller (?) Häuser in Paris anzeigte, so dass man einfach von einem beliebigen Standpunkt aus, eine gebaute Umgebung historisch einordnen konnte. Bei einem Gerätewechsel habe ich diese Anwendung nicht mitgezügelt und seither suchte ich sie vergebens. Dank der Webseite Alpage. Analyse diacronique de l’espace urbain Parisien: approche Géomatique bin ich wieder einigen Elementen auf die Spur gekommen. Im Buch von Michel Huard, Atlas historique de Paris, ist viel von diesen Informationen auch gedruckt verfügbar. Dieses Buch haben wir am letzten Tag unseres Aufenthaltes im Schaufenster des Maison d’Ourscamp : le lieu d’accueil de Paris historique entdeckt und gekauft. Dabei kamen wir auch noch in den Genuss einer Führung durch dieses Gebäude, v.a. durch den Keller aus dem 13. Jahrhundert, der gegenwärtig nach traditioneller Manier restauriert wird und nach der Notre Dame das zweitälteste gotische Bauwerk in der Stadt sein soll.

Ein historischer Stadtspaziergang

Auf der Suche nach oben erwähnter Baugeschichts-App bin ich auf der Seite … auf den Namen Hélène Noizet als der Site-Verantwortlichen gestossen und habe sie angeschrieben. Wider Erwarten habe ich umgehend Antwort erhalten und am 15. November haben wir uns um 14 Uhr an der Sorbonne, ihrem Arbeitsplatz getroffen, um unter ihrer Führung das mittellalterliche Paris zu erkunden.

Diesen Spaziergang haben wir von der Sorbonne bis zur Stadtmauer von Philippe Auguste durchwandert, einschliesslich der Ansicht des einachsigen Gebäudes am Boulevard Saint Germain 7, welches genau die Lücke der Stadtmauer von Philippe August ausfüllt. Einige der Punkte – Saint Sévérin, Maisons rue Galande, Collège des Bernardins, der Stadtsitz der Zisterzienser nach demjenigen der Cluniazienser – waren wirklich neu, andere haben wir schon früher gesehen. Jetzt gibt es einfach zu allem eine Geschichte und mehr Verständnis für das Universitäts- und Literaturquartier (viele Verleger, Buchhandlungen).

Das ‚Zentrum‘ von Paris

« […] les Parisiens de 1850 auraient été presque unanimes à situer le centre de leur ville sur les bords de la rive droite de la Seine. » (S. 77) Der heute allein stehende Turm Saint Jacques wäre also Teil des Stadtzentrms gewesen. Der Turm, die abgebrochene Kirche und der im 19. Jahrhundert darum herum gebaute Markt haben eine bewegte und äusserst spannende Geschichte, die sowohl mit der Stadtentwicklung als auch mit der Stadterforschung – historisch und archäologisch – verbunden ist.

« Dans le Paris d’Hausmann, la tour Saint-Jacques n’est pas un monument historique, c’est un monument hausmannien. Une borne sur une artère. Un pivot. Un point de rayonnement. une diversion à la monotonie. » (S. 67)

Das kleine Büchlein war spannend zu lesen und aufschlussreich, weit über den auf diesen Turm eingeschränkt scheinenden Fokus hinaus.

Den Turm kann man auch besteigen: 300 Treppenstufen für rund 51m (die Türme der Notre Dame sind mit 69m höher, im Buch werden allerdings Quellen zitiert, die behaupten der Tour Saint-Jacques sei höher), allerdings nur Freitag bis Sonntag. Von einem Besuch mussten wir wegen des schlechten Wetters absehen, das bleibt also noch auf der to-do-Liste.